Das „Model T“ der Demokratie: der Parteienstaat
und seine Überwindung durch den „Staatsordnungskonfigurator“

Wenn eine menschliche Idee zur Realisierung drängt, dann tut sie es zunächst in vergleichsweise simpler Urform. Wenn es eine wichtige Idee ist, differenziert sich die Urform im Lauf der Geschichte immer weiter aus. Dabei verbinden sich oft mehrere Ur-Ideen zu einem neuen Ganzen. So fanden beispielsweise die Erfindung des Rades und die Erfindung des Motors in der Ur-Idee eines Automobils zusammen, die sich dann ihrerseits immer weiter ausdifferenzierte. In einer frühen Episode der Automobilentwicklung entstand das berühmte „Model T“ von Ford, das zumindest produktionstechnisch einen bedeutenden Entwicklungsschritt darstellte.

Von Henry Ford ist die Aussage überliefert, jeder seiner Kunden könne das Model T in jeder gewünschten Farbe bekommen, vorausgesetzt, es ist schwarz. Fords Vorstellung war offenbar, dass das Automobil seiner Zeit ein schwarz lackiertes Model T war und vorerst bleiben würde. Diese Vorstellung hatte natürlich nur für eine kurze Phase der stürmischen Automobilentwicklung Bestand. Sie war aber typisch für einen erfolgsverwöhnten Monopolisten, den seine vorübergehende Marktmacht zu einem – letztlich für ihn selbst bedrohlichen – Ideenstillstand verleitet.

Dass Erfolgsgewissheit Vorstellungskraft und Veränderungswillen lähmt, ist bekanntlich eher die Regel als die Ausnahme. Dennoch erwächst hieraus vergleichsweise geringer Schaden für die Allgemeinheit. Der Grund ist, dass den Erfolgreichen fast immer genügend Erfolgshungrige auf den Fersen sind, deren Vorstellungskraft und Veränderungswille so stark sind, wie er es bei den schon Erfolgsverwöhnten einmal gewesen war. Dies ist der Mechanismus des Wettbewerbs, der alte Ideen und alte Entwicklungen immer wieder überbietet und damit entwertet. Gäbe es diesen Mechanismus nicht, hätte sich womöglich mindestens eine Generation von Autofahrern mit dem Entwicklungsstand eines Model T zufrieden geben müssen. Sie hätten dies vermutlich sogar klaglos hingenommen, weil die Vorstellungskraft der Wenigsten über die eines bequem gewordenen Monopolisten hinausgeht.

Natürlich wäre es für die Heutigen eine erschreckende Vorstellung, automobil immer noch in Model-T-Fahrzeugen unterwegs zu sein. Noch mehr sollte aber die Vorstellung erschrecken, dass auch in anderen Bereichen als der Wirtschaft die Entwicklung von erfolgsgesättigten statt von erfolgshungrigen Personen oder Institutionen geprägt und dass sie auf einem dem Model T vergleichbaren Stand stehengeblieben sein könnte. Nach solchen Bereichen muss man in der Tat nicht lange suchen. Eine entsprechende Diagnose lässt sich für die gesamte Politik stellen. Politik ist in der etablierten Demokratie eine Veranstaltung von Parteien, und deren Stellung im Politikgeschehen hat mit der Stellung eines Henry Ford auf dem seinerzeitigen Automobilmarkt große Ähnlichkeiten.

Wie im Automobil die Ur-Ideen von Rad und Motor zusammentrafen, so waren es im Demokratiekonzept die Ur-Ideen von Mehrheitswahl und politischer Partei. Parteien bzw. parteiähnliche Organisationen sind im republikanischen Staat das Herrschaftsinstrument, das einem begrenzten Personenkreis die Kontrolle über den gesamten Staat ermöglicht, und demokratische Wahlen sind das Verfahren, das eine Willkürherrschaft von Parteien über die Mehrheit der Bürger auf Dauer verhindert. Insofern ist, um bei dieser Analogie zu bleiben, das Rad der Demokratie die Mehrheitswahl, und ihr Motor sind politische Parteien. Beide Ur-Komponenten der Demokratie verharren aber auf einem Entwicklungsniveau, das heute ebenso rückständig anmutet, wie es ein Model T im heutigen Straßenverkehr täte. Die Rückständigkeit ist sogar insofern noch dramatischer, als die historisch stimmigere Analogie zu politischen Parteien eher das Postkutschenpferd wäre als der Benzinmotor.

Das Modell T ist auch insofern ein passendes Vergleichsobjekt zur Demokratie, als es nur als ein Standardmodell in einer Farbe angeboten wurde. Heutige Automobilhersteller ermöglichen ihren Käufern, sich die Fahrzeugausführung ihrer Wahl mit einem Online-Konfigurator aus einer immer größeren Vielfalt immer fortgeschrittenerer Komponenten und Varianten ganz individuell zusammenzustellen. Mit diesen Wahlmöglichkeiten wachsen mittlerweile Generationen heran, die sich den Entwicklungsstillstand einer Model-T-Phase kaum noch vorstellen können. Generationen aber, für die solcher Entwicklungsstillstand im nichtpolitischen Leben unvorstellbar geworden ist, nehmen natürlich auch den Entwicklungsstillstand demokratischer Politik nicht mehr ohne Weiteres für selbstverständlich. Sie sind eher gelangweilt und befremdet von politischen Parteien, deren stillschweigende Botschaft ist: Ihr könnt die Demokratie in jeder Form haben, die ihr wollt, vorausgesetzt, es ist eine Parteiendemokratie. Auch wenn aus diesem Befremden nicht unmittelbar politischer Veränderungswille entsteht, ist doch schon allein daraus die allgemein wachsende Politikmüdigkeit schlüssig erklärbar. Dafür spricht auch, dass solches Befremden auch gegenüber anderen Institutionen zu beobachten ist, die in ihrer organisatorischen und ideologischen Entwicklung vergleichbar stagnieren, wie Kirchen und Gewerkschaften.

Das der Wirtschaftswelt entnommene Beispiel des für jedermann zugänglichen Produktkonfigurators hat daher für die Entwicklungsprobleme der Demokratie einige Erklärungskraft. Der demokratische Parteienstaat hat im Vierteljahrtausend seit seiner Entstehung keinerlei Entwicklung erfahren, die der Entwicklung vom schwarzen Einheits-Model-T zum am Konfigurator entworfenen Individual-Automobil heutiger Zeit auch nur in Nuancen vergleichbar wäre. Parteien sind systembedingt als mehr oder weniger ausgeprägte Politik-Monopolisten bzw. Oligopolisten angelegt, die an einer wettbewerbsgetriebenen Demokratieentwicklung keinerlei Interesse haben. Sie mögen Motor der Politik sein, aber dieser Motor hat heute einen Entwicklungsrückstand von mindestens einem Jahrhundert.

Das Beispiel des Konfigurators illustriert, wie anders die Veranstalter von Demokratie mit der Aufgabe der Demokratieentwicklung umgehen könnten und sollten. Eine Schlüsselrolle könnte hierbei das Instrument eines Staatsordnungskonfigurators spielen. Allein das Bereitstellen eines solchen Konfigurators könnte das politische Bewusstsein wesentlich beeinflussen. Es könnte dazu beitragen, die Demokratie für allfällige Systemveränderungen vorbehaltlos offen zu halten.

Ein Staatsordnungskonfigurator wäre eine Software, mit der sich virtuelle Staatsorgane zu virtuellen Gesamt-Staatsmodellen zusammenstellen ließen. Damit ließen sich nicht nur die aus der Geschichte bekannten Komponenten politischer Ordnung zu Abbildern historischer Staatsmodelle zusammenfügen. Der Hauptweck eines solchen Konfigurators wäre natürlich, mit neuartigen Staatsordnungs-Komponenten neue Staatsmodelle zu entwerfen, für die die Geschichte sich erst noch zu öffnen hätte. Online verfügbar gemacht, würden solche Konfiguratoren für jedermann anschaulich machen, was in der bisherigen Geschichte nur in öffentlichkeitsfernen Gelehrtenstuben, in den Köpfen intellektueller Revolutionäre oder in kleinen Beraterzirkeln visionärer Staatslenker zu Wort und Bild fand.

Von solchen Konfiguratoren wären verschieden anspruchsvolle bzw. komplexe Versionen zu entwickeln, die u.a. auf verschiedenen Ebenen der politischen Bildung einsetzbar wären, an Schulen, Hochschulen und Akademien, aber auch in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen verschiedenster Art und natürlich von einzelnen interessierten Bürgern. So genutzt, wären solche Konfiguratoren Instrumente zur Einübung konstruktiver virtueller Systemkritik und Systementwicklung, zum virtuellen Durchspielen von Veränderungsmöglichkeiten der eigenen und fremder Staatsordnungen bis hin zur virtuellen Utopie. Sie würden damit einen politischen Bewusstseinsstand schaffen helfen, der Stillstand und Rückschritt der Demokratieentwicklung nahezu unvorstellbar macht.

Parteien und Parteienstaat werden den Bürgern ein solches zur Systemveränderung einladendes Instrument allerdings nicht als Geschenk zu Füßen legen. Ausgehen müsste die Entwicklung von Staatsordnungskonfiguratoren daher von zivilgesellschaftlicher Initiative. Wenn danach genug öffentliches Interesse erwacht ist, könnten sich aber auch staatliche Institutionen der Beteiligung hieran kaum noch verweigern. Damit aber, mit der Bereitstellung von Staatsordnungskonfiguratoren durch staatliche Organe und mit deren verbreiteter Verwendung auch in staatlicher Bildung, wäre die Model-T-Phase der Demokratieentwicklung zumindest im Geiste bald überwunden. Im nachfolgenden Bewusstseinsschritt würde dann auch die Notwendigkeit einer systemoffenen neokratischen Verfassung sehr rasch zur Selbstverständlichkeit.

07-2013

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