Verfassungsentwurf
III Verfassungsgrundsätze
Kommentar:
Verfassunggebung folgte in der Vergangenheit immer auch historisch gewachsenen Grundsätzen, die stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt wurden. Daher konnte darauf verzichtet werden, einer Verfassung explizit Verfassungsgrundsätze voranzustellen. Anders ist dies, wenn ein Verfassungsentwurf sich an neueren Grundsätzen orientiert, die noch nicht als selbstverständlich gelten können. Solche neueren Grundsätze sind in einer neuen Verfassung explizit auszuweisen, um Verständnisproblemen vorzubeugen.
Bei den nachfolgend unter Ziffern 1 bis 8 beschriebenen handelt es sich um solche neueren Verfassungsgrundsätze. Aus ihnen ergibt sich z.B. der Sinn einer Detailbestimmung dieser Verfassung wie der Bemessung von Amts- und Mandatszeiten (Ziffer 6). Darüber hinaus geben diese Grundsätze auch der einfachen Gesetzgebung Orientierung, wo diese im herkömmlichen Staat zunehmend orientierungslos erscheint, so z.B. in Fragen der Umverteilung (Ziffer 9). Dass Umverteilung in bestehenden Staatsordnungen großenteils verdeckt erfolgt, untergräbt auf lange Sicht spontane gesellschaftliche Solidarität, und es vereitelt rationale Diskurse in Verteilungsfragen. Die offene Umverteilung zum langfristigen Verfassungsgrundsatz zu erheben wäre daher schon für sich genommen ein großer Schritt der Verfassungsentwicklung.
(1) Die Normen der Präambel, der Verfassungsgrundsätze und der Grundrechte und die weiteren Normen dieser Verfassung sind unmittelbares Recht. Sie sind im Geltungsbereich dieser Verfassung verbindlich für andere Verfassungen (Spartenverfassungen, Länderverfassungen) sowie die daran gebundene Gesetzgebung, Rechtsprechung, Regierung und Verwaltung.
(2) Die Verfassung ist verständlich. Der Verfassungskongress formuliert und verbreitet neben der rechtlich letztgültigen Verfassung (Expertenverfassung) unterschiedlich ausführliche und sprachlich unterschiedlich anspruchsvolle weitere Textvarianten (vgl. Artikel 17, Ziffer 3).
(3) Die Verfassung ist öffentlich. Der Verfassungskongress sorgt dafür, dass die Bürger die Verfassungsentwicklung mitverfolgen. Er berichtet der gesamten Öffentlichkeit regelmäßig über die Auswirkungen der Verfassung auf Politik, auf staatliches Handeln, auf die Rechtspraxis und auf die Lebenswelt der Bürger.
(4) Die Verfassung lebt. Sie ist insbesondere offen für Veränderungen – auch grundlegende – der politischen Ordnung (systemoffene Verfassung).
(5) Die Verantwortlichkeiten von Amts- und Mandatsträgern werden im Umfang so begrenzt, dass verfügbare normale Fähigkeiten ausreichen, um ihnen gerecht zu werden. Politische Allzuständigkeit von Amts- und Mandatsträgern ist ausgeschlossen.
(6) Amts- und Mandatszeiten werden auf die Fristigkeit der politischen Aufgaben abgestimmt. Je langfristiger die Aufgaben, desto länger die Amts- bzw. Mandatszeit.
Bei langen Amts- und Mandatszeiten ist die Wiederwahl ausgeschlossen.
(7) Verfassung- und Gesetzgeber fördern und praktizieren die Anwendung von höher entwickelten Abstimmungsverfahren als dem einfachen Mehrheitsprinzip. Dies sind Verfahren, bei denen Stimmberechtigte den zur Wahl stehenden Alternativen z.B. individuelle Ablehnungswerte, Noten oder Rangplätze zuordnen können(Systemisches Konsensieren u.a.).
(8) Staatliche Umverteilung erfolgt offen und für jedermann nachvollziehbar. Verdeckte Umverteilung wird vermieden. Der Übergang zur offenen Umverteilung erfolgt unter Wahrung des Grundrechts auf Kontinuität im Generationenübergang (s. • Grundrechte).
(9) Verfassung- und Gesetzgebung schützen die Bürger vor privater und staatlicher Monopolmacht. Sie wirken der Bildung von Monopolmacht entgegen, insoweit dies wirtschaftlich sinnvoll ist.
(10) Verfassung- und Gesetzgebung fördern die Meinungsvielfalt. Sie wirken der Entstehung von Meinungsmonopolen und -kartellen politischer, kultureller, wissenschaftlicher, weltanschaulicher und religiöser Art entgegen.
(11) Verfassung- und Gesetzgebung verhindern die Bildung von Informationsmonopolen sowie die missbräuchliche und missbrauchsträchtige Gewinnung von und Verfügung über elektronische Personen- und Unternehmensdaten durch staatliche Institutionen und private Unternehmen.
(12) Änderungen dieser Verfassung, die diese Verfassungsgrundsätze oder die Grundrechte nach Artikel 2 – 9 in ihrem Wesen berühren, bedürfen einer Mehrheit von 80% der Mitglieder des Verfassungsrats und der Verfassungsbürgerschaft. Eine Änderung des Artikels 1 ist unzulässig.